Ist der Anblick des Gekreuzigten noch zumutbar?

In der Fastenzeit schauen wir vermehrt hin auf das Kreuz Christi. In den letzten beiden Fastenwochen wir es dann verhüllt, um am Karfreitag in feierlicher Weise enthüllt und verehrt zu werden. Allerdings tun sich nicht nur der Kirche Fernstehende, sondern selbst Kirchenvertreter schwer mit dem Kreuz.

Vor Jahrzehnten schon machte die Bischöfin der Nordelbischen Kirche Maria Jepsen den Vorschlag, das Kreuz durch die Krippe zu ersetzen; dieses sei ein wesentlich positiveres Glaubenssymbol. Empfindsame Eltern forderten dann die Entfernung des Kreuzes aus den Kindergärten und Schulen, weil sie fürchteten, der Anblick eines toten Mannes könne dauerhafte psychische Schäden bei ihren Kindern hinterlassen. Auch als der Mel Gibson-Film „Die Passion“ in den deutschen Kinos lief, haben Vertreter der Kirche inclusive Bischofskonferenz-Vorsitzendem Kardinal Karl Lehmann abgeraten, den Film anzuschauen, da dieser zu grausam sei.

Gesundheit und Leidvermeidung um jeden Preis kennzeichnen die Mentalität im modernen Europa. Gerne verschließt der Mensch seine Augen vor dem Leid – vor dem eigenen wie vor dem anderer. Ist also der Anblick des Gekreuzigten dem Menschen von heute überhaupt noch zuzumuten? Die meisten Devotionalienläden haben längst auf die emotionale Lage in unserem Land reagiert. Man bietet farbenfrohe Kreuze mit den unterschiedlichsten Darstellungen an: Sonne, Blumenwiese, spielende Kinder oder Regenbogen. Oftmals kommt ein ergänzender Schriftzug hinzu wie „Gott ist Freude“, „Ich bin bei dir“ oder die unvermeidlichen irischen Segenssprüche. Kurz: Heute kann man auf einem Kreuz alles Mögliche sehen, nur immer seltener den Gekreuzigten. Schon seit längerem ist dieser Trend zu beobachten und er hält weiter an. Als Kommunions-Andenken werden lebensfrohe Darstellungen bevorzugt.

Die Spaßkultur hat auch in der Kirche Einzug gehalten. Gott darf nur noch freundlich und gutmütig sein. Er wurde vielerorts degeneriert zum fröhlichen Lebensbegleiter, der aber den Menschen in keiner Weise fordern oder ihm Lasten auflegen darf. Vom Leiden, erst recht vom stellvertretenden Sühneleiden Christi wird nicht mehr gesprochen. Denn ein Reden vom Opfertod Christi hätte ja unweigerlich auch ein Reden von der menschlichen Sünde und deren Ausmaß zur Folge.

Derselbe Trend lässt sich in den verschiedensten Lebensbereichen beobachten. Viele Gräber werden heute nicht mehr von einem gekreuzigten Christus geziert, sondern bestenfalls noch von einem Kreuz ohne Corpus, solange dieses noch nicht durch symbolische oder bildliche Darstellungen aller Art ersetzt wurde. Hier erfreuen sich vor allem Engelsdarstellungen besonderer Beliebtheit. Nicht selten hat esoterisches Gedankengut hier längst schon seinen Ausdruck gefunden.

Immer seltener trifft man auf Wegkreuze, die früher insbesondere ländliche Gegenden prägten. Sogar die Messgewänder haben ihr Aussehen verändert. War auf klassischen Gewändern das Kreuz die beliebteste Darstellung, so ist es auf modernen Gewändern in der Regel gar nicht mehr anzutreffen. Da auch hier die Nachfrage das Angebot bestimmt, liegt nahe, dass sich selbst Priester schwer tun mit dem Gekreuzigten.

Jede Zeit hat ihre Frömmigkeitsform und ihre eigene Darstellung des Kruzifixes. In der Romanik zeigte der Herr am Kreuz kaum Spuren seines Leidens. Schon am Kreuz wurde er als Sieger dargestellt, der alles Leid überwunden hat. Dadurch wurde der christliche Glaube an die Auferstehung unterstrichen, wodurch man sich von den anderen Religionen abgrenzte. Die Künstler der Barockzeit haben dann, als das ganze Abendland längst christlich war, eine detailgetreue Abbildung eines Gekreuzigten versucht, haben Christus als einen geschundenen Menschen dargestellt, der ganz und gar entstellt war. Der Betrachter konnte angesichts des eigenen Leids sich getröstet wissen im Gedanken, dass seinem Herrn und Gott kein Leid fremd war und er es sogar freiwillig auf sich genommen hat. Als in Europa die Pest wütete, gab es sogar Darstellungen des Gekreuzigten mit Pestbeulen. Hier wird besonders deutlich: Das Kreuz ist die Antwort auf die Probleme und Fragen der Menschen.

Heute sehnt sich eine lau gewordene Gesellschaft nach einer „weichen Spiritualität“. Sie bestärkt sich selbst in ihrer Jenseitsvergessenheit, indem sie von Gott nur noch einen Beistand im Diesseits erwartet. Deutliche Glaubensaussagen flieht sie und ist schnell bereit, diese mit der Totschlagvokabel „fundamentalistisch“ beiseite zu schieben. Die Softie-Gesellschaft braucht eine Softie-Religion, eine Religion, die alles Unangenehme ausblendet, folglich auch das Thema Leid. Doch ein inhaltlich entleerter Glaube wird schnell zum spirituell gefärbten Humanismus, zum anspruchslosen Schönwettergerede, das seine Kraft verloren hat. „Wenn aber das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr.“ (Mt 5,13)

Die Religion wird nur dann für den Menschen zur Lebenshilfe, wenn sie den brisanten Fragen nicht ausweicht, sondern sie aufgreift und mit der Botschaft des Glaubens konfrontiert. Das Leiden des Menschen muss ernst genommen werden und ebenso das Leiden Christi. Auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Leidens gibt es nämlich keine Erklärung, nur ein Schauen auf den, der freiwillig unser Leiden geteilt hat.

Doch am Kreuz Christi schieden sich die Geister zu allen Zeiten. Schon der heilige Paulus sagt, es sei für die einen „ein empörendes Ärgernis“, für jene, die glauben, aber „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1Kor 20,23). Gerade ein solches Marterwerkzeug wie das Kreuz verwandelt Gott durch den Opfertod seines Sohnes zum Symbol des Heils. Es ist der Gekreuzigte, der die Erlösung bringt. Ohne den angenagelten Christus fehlt die entscheidende Botschaft. Das ist die Botschaft jedes Kruzifixes: Den denkbar grausamsten Tod hat der Gott und Mensch Jesus Christus auf sich genommen. Kein menschliches Leid ist ihm daher fremd, kein Elend und keine Gottverlassenheit, die er nicht ausgehalten, keine Sündenschuld, die er nicht auf sich geladen und getragen hat. Der gekreuzigte Christus gibt auch dem leidenden Menschen von heute seine Würde wieder.

Von Georg Alois Oblinger


Aus: PUR-magazin 3-2020, Foto: Liliboas/istockphoto.com